Yoga und Askese: Wege zur Erkenntnis

Yoga und Askese: Wege zur Erkenntnis
Yoga und Askese: Wege zur Erkenntnis
 
Askese und Yoga spielen in der indischen Gedankenwelt seit früher Zeit eine große Rolle. Nach einer alten Vorstellung erzeugt der Asket durch die Kasteiung eine mystische innere »Glut« (»tapas«), die er auf seine Umgebung ausstrahlen kann. Mit ihr vernichtet er denjenigen, der seinen Zorn erregt hat und den er mit seinem Fluch belegt. Die Askese und der Glaube an die dadurch gewonnene Zauberkraft lagen dem magischen Denken der vedischen Opferpriester sehr nahe. Durch Fasten und Selbstkasteiungen in strengster Form erlangte der Asket eine zauberische Macht, die auch die der Priester übertraf, und außerdem Kräfte, die das Menschenübliche überschritten. Er konnte die Welten durchschreiten, Berge erschüttern, den Wohlstand ansteigen oder fallen lassen und Hungersnöte, Krankheiten und feindliche Angriffe abwehren. Die Rishis, sagenhafte Seher der Vorzeit, konnten mit ihrer durch Askese gewonnenen Macht sogar die Götter in Bedrängnis bringen. Nach der Vorstellung der späten vedischen Texte gilt das »tapas« als eine dem Kosmos innewohnende Potenz, durch die der Weltschöpfer die Wesen und Dinge hervorbringt. Die Beherrschung der körperlichen Vorgänge, vor allem des Atems, wurde von einigen Asketen so weit entwickelt, dass sie die Körperfunktionen auf ein Minimum reduzieren konnten, bis hin zu einem willkürlich herbeigeführten Scheintod. In diesem Zustand konnten sie begraben und erst nach einigen Wochen wieder ins Bewusstsein gerufen werden.
 
Um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends nahmen die Asketenbewegungen in Indien stark zu. In ihnen wurde, als Ausdruck einer fortschreitenden Verinnerlichung des geistigen Lebens, der Schwerpunkt von der äußeren Askese immer mehr auf Meditation und Versenkung verlegt. So gewannen der Yoga (= »Anspannung« der geistigen Kräfte durch Konzentration des Denkens) und der Yogin (= der sich Anspannende) große Bedeutung. Die leibliche Askese wurde zu einem Hilfsmittel, das die geistige Askese fördern sollte. Deren Ziel unterscheidet sich grundsätzlich von dem der oben geschilderten leiblichen Askese. Durch Yoga versucht der Übende, mittels systematischer Schulung des Körpers und Geistes auf dem Weg innerer Sammlung, durch unmittelbares Schauen und Erleben die erlösende Erkenntnis zu erlangen. Die Methode wurde in die verschiedenen Religionen Indiens aufgenommen und ist sowohl im Hinduismus als auch bei den Buddhisten und Jainas eines der grundlegenden Mittel, um die Erlösung zu erreichen.
 
Als Stifter des Yoga-Systems und Verfasser der Yogasutras (= Yoga-Lehrtexte) wird in der indischen Literatur Patanjali genannt, der wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr. lebte. Er hat in seinem Werk schon lange geläufige Anschauungen fixiert, systematisiert und philosophisch begründet. Man unterscheidet zwei Arten von Yoga, den Rajayoga (= Hauptyoga) und den Kriyayoga (= praktischer Yoga) oder Hathayoga, ein Begriff, mit dem die späteren, gesteigerten, selbstquälerischen Formen der Hilfsmittel zur Konzentration bezeichnet werden. Die Yoga-Praxis umfasst Übungen wie das Einhalten der fünf großen Gebote, das heißt nicht zu töten, nicht zu lügen, nicht zu stehlen, sich der Unkeuschheit zu enthalten und keine dem Sinnesgenuss dienenden Geschenke anzunehmen. Andere Übungen beziehen sich auf die Beachtung bestimmter Reinheitsvorschriften, die Askese, das richtige Sitzen, die Beschränkung des Atems, die geistige Betrachtung und Versenkung. Der Yoga gilt nicht nur als der sicherste Weg, um die erlösende Erkenntnis zu erlangen, sondern wird auch als Mittel zur Gewinnung von Gesundheit, Schönheit und übernatürlichen Kräften betrachtet.
 
Im zwölften Buch des »Mahabharata« wird diese Meditationstechnik ausführlich behandelt und für die »Bhagavadgita« (= »Der Gesang des Erhabenen«) diente die Yoga-Lehre der Upanishaden als Hauptquelle. Im zwölften Buch stehen die inneren Yoga-Übungen und die moralischen Anforderungen im Vordergrund. Über die Bedeutung von Yoga als »Ausübung« hinaus wird diese Meditationstechnik an vielen Stellen schon im späteren Sinne als »Gottergebung, auf Gott gerichtete Andacht, Streben nach Gotteserkenntnis« verwendet, indem vom Yoga des Gottes, von dem Gott als dem Yogin (= Ausübenden) und Yogeshvara (= Herrn des Yoga) gesprochen wird. Dieser mit einem höchsten Gott verbundene Yoga wird in den jüngeren Upanishaden, im Vishnuismus und Shivaismus gelehrt und findet seine volle Ausprägung im Tantrismus. Unter den Sekten, die einen einzigen Gott anerkennen, sind vor allem die vishnuitischen Pancaratras und die shivaitischen Pashupatas durch die Yoga-Lehre beeinflusst. Bei letzteren hat der Begriff »Yoga« die Bedeutung von »Vereinigung (mit Gott)« angenommen.
 
Während die Anhänger des Hinduismus im Yoga ihren Geist auf die höchste Gottheit und deren Wirken richten, konzentrieren sich die Buddhisten in der Meditation vor allem auf die Erkenntnis des Weltsystems mit allen seinen Lebewesen sowie auf die Betrachtung der Vergänglichkeit aller Dinge, die Wiedergeburt hervorrufenden Taten (»karma«), die Ursachen des Geburtenkreislaufes und auf die Übungen, die es ermöglichen aus dem Geburtenkreislauf herauszutreten. Die Mahayana-Schule des Yogacara (= Betätigung des Yoga) hat diesen Namen erhalten, weil in ihr diese Meditationstechnik eine besondere Rolle spielt. Yoga ist dabei die Betätigung all der Tugenden, welche von einem Bodhisattva, einem zukünftigen Buddha, erwartet werden.
 
Die Lehre von der Versenkung ist auch bei den Jainas von großer Wichtigkeit; sie haben eine eigene Yoga-Lehre entwickelt. Die Übung beginnt mit der Meditation über den Ort und die Zeit der bevorstehenden Erlösung und führt über mehrere Zwischenstufen zur höchsten Ebene, auf der man die Gewissheit erlangt, dass die Seele erlöst ist. Die Jainas versuchen, durch diese Technik alle Tatsubstanz (»karma«) abzutöten und die Seele aus ihrer unheilvollen Verstrickung mit dem Körper zu befreien.
 
Dr. Siglinde Dietz
 
 
Sivaramamurti, Calambur: Indien. Kunst und Kultur. Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Oskar von Hinüber. Freiburg im Breisgau u. a. 41987.

Universal-Lexikon. 2012.

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